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Gebraucht wird ein handlungsfähiger Staat

MUMM-Interview mit Prof. Dr. Rudolf Hickel

Rudolf Hickel, auf einer Treppe sitzend
Rudolf Hickel (geboren 1942), Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen im Ruhestand, Gründer des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW) in der Kooperation der Arbeitnehmerkammer Bremen und der Universität; Publikationen vor allem auch zu den öffentlichen Finanzen im Stadtstaat Bremen, Berater der Gewerkschaften, mehrfacher Schlichter bei Tarifverhandlungen.

MUMM: Lieber Rudolf Hickel, du bist Finanzwissenschaftler, dem die Beschäftigten sehr am Herzen liegen. Schwerpunkt dieser MUMM ist die Bundestagswahl. Was sind die Herausforderungen, die die zukünftige Regierung bewältigen muss?
Rudolf Hickel: Diese Bundestagswahl findet in der längst nicht überwundenen Corona-Pandemie statt. Das Virus hat lang aufgestaute Fehlentwicklungen sichtbar gemacht. Darauf müssen sich die Konzepte der Parteien konzentrieren. Gebraucht wird ein demokratisch abgesicherter, finanziell handlungsfähiger Staat. Seine Basis sind die für ihre Leistungen durch gute Beschäftigungsverhältnisse anerkannten und motivierten Beschäftigten. Deren systemisch relevante Arbeit muss entsprechend gesichert und finanziert werden. Daraus leitet sich ein Prüfstein für die Programme der Parteien im Bundestagswahlkampf ab: Das Konzept für einen starken öffentlichen Sektor, ohne den die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen nicht zu bewältigen sind. Stabile Beschäftigungsverhältnisse mit Tarifbindung sind unabdingbar. Gemessen an diesem Prüfstein fallen einige Parteien mangels Zukunftsfähigkeit unter den Tisch.
Eine zukunftsfähige Politik braucht zudem eine demokratisch eingebettete, sozial und ökologisch verantwortliche Wirtschaft. Die gefährliche Macht der multinationalen Konzerne muss zurückgedrängt werden. Die lokale Wirtschaft, die durch die Corona-Krise besonders gebeutelt wurde, gilt es wieder zu stärken. Damit könnte auch ein Beitrag gegen die Verödung der Innenstädte erbracht werden.
MUMM: Die sozialverträgliche Bewältigung der Corona-Krise kostet viel Geld. Bleiben der öffentlichen Hand da noch ausreichende finanzielle Mittel für andere Zukunftsaufgaben?
Rudolf Hickel: Die finanziellen Belastungen wirken im ersten Moment dramatisch. Im Zentrum stehen Maßnahmen zum Erhalt der Produktionsbasis und der Arbeitsplätze über die Corona-Krise hinweg und Ausgaben für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Programme tragen aber auch mit Investitionen zum ökologischen Umbau bei. Aus der Pandemie heraus mit einer Politik der sozial-ökologischen Transformation, das geht in die richtige Richtung.
MUMM: Wie kann man sicherstellen, dass der Staat die zukünftigen Herausforderungen finanziell stemmen kann?
Rudolf Hickel: Die Staatsverschuldung ist als Finanzierungsinstrument wiederentdeckt worden. Die Schuldenbremse konnte nach Artikel 115 im Grundgesetz ausgesetzt werden. Dieses Vorgehen war alternativlos. Allerdings droht jetzt eine baldige Rückkehr zur Tilgung der aufgelaufenen Schulden. Das wäre eine Katastrophe. Damit wäre eine neue Runde der Einsparpolitik vorprogrammiert Die Schulden sollten lange gehalten werden. Wenn sie getilgt werden sollen, muss die Steuerpolitik für höhere Einnahmen sorgen.
MUMM: Bürgermeister Bovenschulte hat einen Lastenausgleich ins Spiel gebracht. Was hältst du von dieser Initiative?
Rudolf Hickel: Andreas Bovenschulte war der Erste, der die Finanzierung durch eine einmalige Vermögensabgabe ins Spiel gebracht hat. Damit wird das oberste Prozent der Reichen, die über mehr als Drittel des gesamten Netto-Vermögens verfügen, zur Kasse gebeten. Ich habe den Vorschlag unseres Bürgermeisters durchgerechnet und überregional unterstützt. Dafür spricht auch, dass die Corona-Krise die Einkommensschwachen und vom Sozialstaat Abhängigen viel stärker trifft. Insgesamt ist dauerhaft eine gerechte Verteilung der Lasten für die Steuerfinanzierung des öffentlichen Dienstes und der Zukunftsinvestitionen erforderlich. Dazu gehören eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer, eine Anpassung der Unternehmenssteuern, die deutliche Schärfung der Erbschaftsteuer und eine Jahr für Jahr erhobene Vermögensteuer. Aber auch die jetzt durch die USA vorgeschlagene globale Mindeststeuer – allerdings nicht mit 15 %, sondern 21 % - gegen die Steuervermeidungstechniken multinationaler Konzerne gehört dazu.
MUMM: Was kann die Gesellschaft und die Politik aus der Corona-Krise lernen?
Rudolf Hickel: Die Corona-Krise hat ungelöste Strukturprobleme und Fehlentwicklungen vergrößert sichtbar gemacht. Eine moderne Gesellschaft muss öffentliche Güter wie Bildung und Gesundheit finanziell absichern. Ein Parteiprogramm, das einen weiteren Abbau des öffentlichen Gesundheitssystems zugunsten profitorientierter Konzerne fordert, ist schlichtweg nicht wählbar.
Die Corona-Krise und ihre Bewältigung lenkt den Blick darauf, wie eng unser individuelles Verhalten und gesellschaftliche Verantwortung miteinander verwoben sind. Für Gewerkschaften ist dieser Zusammenhang nicht neu. Nur durch kollektiven Schutz durch Tarifverträge können Beschäftigte sich gegen strukturelle Abhängigkeit und Ausbeutung wehren. Diese Lehre der Arbeiter:innenbewegung lässt sich im Lichte der Corona-Pandemie verallgemeinern: Individuelle Freiheit ist nicht voraussetzungslos. Dafür steht heute der soziale Staat. Hinzu kommt im Interesse persönlicher Freiheit künftiger Generationen, die das Bundesverfassungsgericht reklamiert hat, die öffentliche Sicherung ökologischer Nachhaltigkeit.

Das Interview mit Rudolf Hickel führte Doris Hülsmeier.

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