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Alternative Stimmung

Die Twitterisierung des Leseverhaltens und ihre Folgen

Eine Amsel sitzt auf einem Zweig und zwitschert
Warum nicht einmal zwitschern: Bremerinnen und Bremer lieben ihre Stadt! (Foto:CC BY-NC 2.0 veröff. Di Qiu (diegocn auf flickr))

Der Kurznachrichtendienst twitter ist zwar im Wettbewerb der social media in den letzten Jahren eher ins Hintertreffen geraten. Seine Nutzerzahlen stagnieren, und viele sind auch nur noch dabei, um die Absonderungen des US-Präsidenten aus erster Hand zu erfahren. Nichtsdestotrotz hat das Gezwitscher einen großen Anteil daran, dass das Mediennutzungsverhalten in den letzten Jahren völlig neu geprägt wurde. 140 Zeichen sind heute das Maß aller Dinge, wenn es um die Verbreitung von Nachrichten geht. Was länger ist, wird mit einer dramatisch einbrechenden Aufmerksamkeitskurve abgestraft.
140 Zeichen sind ungefähr so viel, wie Überschrift und Untertitel des Aufmachers in einer klassischen Tageszeitung. Für die Presse ist das Fluch und Segen zugleich. Ein Fluch, weil kaum jemand sich noch die Mühe macht, ganze Artikel zu lesen und folglich die Zeitung im Kiosk liegenbleibt. Die inzwischen weitverbreiteten Paywalls ("Bezahlschranke") in den Online-Ausgaben, so verständlich sie aus dem wirtschaftlichen Interesse der Zeitungen heraus sind, verstärken eher noch diesen Trend. Dann lese ich eben nur die Überschrift. Zumal, das muss man den Redaktionen lassen, diese heute oft mit viel Liebe zum Detail gedichtet werden. Manches erinnert an die frühen Tage der taz. Aber Vorsicht, Dichtkunst kann (und soll ja durchaus auch mal) Trugbilder erzeugen.
Sollen Trugbilder erzeugt werden, dann ist die Twitterisierung hingegen ein Segen. Denn mit der Trennung von Überschrift und Inhalt geht auch die Trennung von Stimmung und Fakten einher. Und dann kann man sich in den höheren Etagen der Redaktionen auf die Gestaltung und Verbreitung von politischen Stimmungen konzentrieren, weitgehend unbeeindruckt von dem, was der oder die "Basis"-Journalist_in an guten und wichtigen Informationen zusammengetragen hat.
So wird aus vermeintlichen Auffälligkeiten (viel mehr scheint es nach dem letzten Stand ja gar nicht zu sein) um die Außenstelle Bremen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) immer wieder ein "Bremer BAMF-Skandal". Einerseits wird damit die Stimmung geschürt, dass Bremen sowieso der Hort schlampigen Verwaltungshandelns ist und immer sein wird. Da kann der mit journalistischer Sorgfalt arbeitende Autor im Artikel noch so deutlich schreiben, dass die bremische Verwaltung damit gar nichts zu tun hat. Andererseits soll es unbedingt als Skandal gebrandmarkt werden, dass diese BAMF-Dienststelle eine überdurchschnittlich hohe Anerkennungsquote hat. Kein Skandal scheint es hingegen zu sein, wenn die Anerkennungsquoten der anderen BAMF-Dienststellen auch deshalb so niedrig sind, weil zigtausendfach Asylanträge zu Unrecht abgelehnt werden, wie die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zeigen.
Sehr alternativ verstimmt war ich auch, als ich jüngst lesen musste "Studie bescheinigt Bremen wenig Lebensqualität". Eine privatwirtschaftliche schweizerische Wissenschaftsfabrik hatte dies aus vielen Daten der amtlichen Statistik "errechnet". Klingt hochseriös, oder? Dabei ist Lebensqualität auch etwas persönliches.
Ein wichtiges Kriterium bei der Studie war die hohe Armutsquote in Bremen. Simple Logik: Viele arme Menschen, schlechte Stadt. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Eine hohe Lebensqualität kann man einer Stadt bescheinigen, in der auch Menschen an oder unter der Armutsgrenze ein Leben in Würde und Sicherheit führen können. Da hat Bremen nach vielen Jahren Kürzungspolitik sicher einige Hausaufgaben zu machen. Und dazu gehört auch, dass hier deutlich weniger Menschen in Armut leben müssen. Aber immerhin fängt Bremen jetzt mit den Hausaufgaben an.

Burkhard Winsemann