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Finger bewegen die Welt

Schnelle Empörung statt ernsthafter Diskussionen

Burkhard Winsemann zeigt den Facebook-Daumen und den Stinkefinger
Ob Facebook-Daumen oder Stinkefinger: Finger bewegen die Welt

So ein Finger ist schon ein erstaunliches Körperteil. So klein, und doch so mächtig. Nicht nur vielfältige handwerkliche Tätigkeiten kann man damit ausführen, sondern sogar das Weltgeschehen steuern. Auch diese Kolumne wäre dieses mal durch ein schlichtes schwarzes "Je suis Charlie" ersetzt worden, vielleicht ergänzt um ein kurzes Herr erbarme Dich betreffend das vielstimmige Geschnatter zum Terroralarm in Bremen. Die Arbeit der Polizei hat doch immerhin dazu beigetragen , dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen ist.
Wäre da nicht dieser Finger gewesen.
Der Stinkefinger, früher höchstens mal von übergeschnappten Fußballspielern gebraucht, ist ja inzwischen schon eine Konstante im politisch-medialen Leben, oder besser im politisch-medialen Siechtum Deutschlands. War es vor knapp zwei Jahren noch Peer Steinbrück, der mit entsprechender Pose Abscheu und Empörung auf sich und den Wahlkampf zeitweise ins Lächerliche zog, so traf nun die mediale Jauche den völlig arglosen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Das Muster ist immer das Gleiche: Eine solche Gelegenheit, ernsthafte politische Diskussionen ganz ganz weit in den Hintergrund zu rücken, lassen sich all zu viele nicht entgehen. Es ist ja auch wirklich zu unangenehm, mit der Zwangsanleihe konfrontiert zu werden, die Nazi-Deutschland Griechenland einst abgepresst hat. Es ist zu unangenehm, über den Anteil von zum Beispiel deutschen Panzerlieferungen an der griechischen Staatsverschuldung zu reden. Und es rückt Deutschlands Politik gegenüber Griechenland in ein wenig schmeichelhaftes Licht, wenn die rund 150 Mrd. Euro ihren langen Schatten werfen, die die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden auf Grund der Finanzkrise weniger an Zinsen ausgeben mussten, weil alle ihr Geld in sicheren deutschen Staatsanleihen parken wollen. Unangenehm ist auch, über die ganz konkreten Folgen der vermeintlichen Rettungspolitik in Griechenland zu reden: Die Einkommen sind um fast ein Drittel zurückgegangen, besonders stark sind davon die niedrigen und mittleren Einkommen betroffen. Ein Viertel der Schulkinder leidet an Hunger, die medizinische Versorgung hat sich dramatisch verschlechtert. Die Säuglingssterblichkeit hat um rund 40 % zugenommen, ebenso wie die Zahl der Selbstmorde.
Erfreulicherweise ist es Jan Böhmermann mit seiner #varoufake-Inszenierung des Stinkefingers - gefälscht oder nicht - gelungen, denen den Spiegel vorzuhalten, die aus einer nicht wirklich an Deutschland gerichteten Geste auf so üble Weise politisches Kapital zu schlagen versuchten. Sogar die Bild gibt sich jetzt leutselig und bringt anlässlich des Besuchs von Alexis Tsipras bei der Kanzlerin „50 gute Gründe, warum uns die Griechen lieb und teuer sind“. Wie mit "teuer" schon angedeutet, kann man über manche dieser Gründe auch heftig mit dem Kopf schütteln. Doch es sind auch ernsthafte Punkte darunter. So lesen wir unter Nr. 39: weil "sie 1974 aus eigener Kraft eine Militärdiktatur stürzten und zur Demokratie zurückfanden." Ja, liebe Bild-Redaktion, das finde ich mal einen guten Grund.
Und 2015 versuchen sie, sich von einer Diktatur der Finanzmärkte und der "Institutionen" zu befreien.

Burkhard Winsemann