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Zu guter Letzt

Marx reloaded - Verkehrte Welt?

Geldbörse und Kleingeld
Von den vollmundig verkündeten Steuerentlastungen bleibt den meisten nur die Finanzierung von einem Kilo Brot und einem Liter Milch im Monat übrig

Konservative wie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher entdecken linkes Gedankengut für sich: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat." (FAZ, 15.8.2011) Mehr und mehr wohlhabende BürgerInnen - nicht nur in Deutschland - wollen höhere Steuern zahlen, um die Staatsfinanzen zu sanieren und/oder unterfinanzierte öffentliche Dienstleistungen verbessern zu können. Mag sein, dass der eine oder andere hier nur spekuliert – darauf, dass es soweit schon nicht kommen und die gute Publicity deshalb letztlich gratis sein wird. Doch darf man durchaus auch ernsthafte Motive vermuten. Marx reloaded – der Staat als ideeller Gesamtkapitalist: Der Wohlstand vieler Reicher und Superreicher in diesem Land droht seine Grundlage zu verlieren, wenn Kindern und Jugendlichen Bildungschancen vorenthalten werden, Sicherheit nicht mehr gewährleistet und Infrastruktur dem Verfall überlassen wird.
Die Politik steht ratlos daneben, starrt auf die großen Anzeigetafeln der Börsen und betet das bewährte Mantra herunter: Wir müssen "sparen". Zum (Um)Denken ist keine Zeit. Zudem haben mehr als 30 Jahre mehr oder weniger ausgeprägt neoliberaler Politik deutliche Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen.
Otto und Erna Normalverbraucher haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass vollmundig verkündete Steuerentlastungen bei ihnen immer nur ein Kilo Brot und einen Liter Milch im Monat finanzieren, während Belastungen und Leistungskürzungen mit voller Wucht zuschlugen. Wenn das die Steuerentlastungen waren, wie werden dann erst Steuererhöhungen?

Karikatur: Die Kanzlerin Merkel hat keine Zeit, Steuern von Reichen entgegenzunehmen

Vielleicht können sich viele auch gar nicht recht vorstellen, wie es in der Etage über ihnen aussieht. Dass die, die am stärksten steuerlich entlastet wurden, privat krankenversichert sind, im eigenen Pool statt im städtischen Bad schwimmen und den Nachwuchs (steuerbegünstigt) vom Hauspersonal betreuen lassen oder (steuerbegünstigt) in Privatschulen schicken, hat man ja nicht ständig im Blick.
Zudem sind viele öffentliche Dienstleistungen auf ein derart klägliches Niveau heruntergekürzt worden, dass der gesellschaftliche Rückhalt dafür bröckelt. Man würde ja auch kein Auto kaufen, das nur drei Räder hat. Jahrzehnte neoliberaler Politik haben die bloße Behauptung der Neoliberalen vom "Staatsversagen" immer mehr Wirklichkeit werden lassen.
Immerhin, noch haben nicht alle vor dieser Entwicklung kapituliert. Die SPD bekennt sich endlich mal wieder dazu, Steuern erhöhen zu wollen, gezielt bei hohen Einkommen und Vermögen. Ganz verkehrt ist die Welt doch noch nicht.

Burkhard Winsemann