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Die richtigen Fernsehbilder

Was die Hamburger G20-Krawalle verdecken

Viele Menschen  bei einer Demonstration
"Solidarity without borders instead G20-Demonstration Hamburg 2017" von Rasande Tyskar - https://www.flickr.com/photos/rasande/ - Lizenz (CC BY-NC 2.0) - https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Ein unsterbliches Zitat des kürzlich verstorbenen Altkanzlers Helmut Kohl, der ja als politischer Ziehvater der heutigen Bundeskanzlerin gilt, lautet: "Entscheidend ist, was hinten rauskommt." Ich bin geneigt anzunehmen, dass Angela Merkel sich mit ihrem Wunsch, Hamburg zum Austragungsort des G20-Gipfels zu machen, an genau dieser Leitlinie orientiert hat. Die rührselige Geschichte, sie habe die Staats- und Regierungschefs in ihrer Geburtsstadt (in der sie dann noch wenige Wochen gelebt hat) empfangen wollen, macht sich in den Boulevardmedien natürlich gut, aber letztlich war es wohl eher eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit. Sex sells, Gewalt auch.
Aufgrund ihrer langjährigen Tradition gewalttätiger Auseinandersetzungen übt Hamburg eine besondere Anziehungskraft auf Chaostouristen aus, und die konfrontationsfreudige "Hamburger Linie" der dortigen Polizei tut ein Übriges. Krawall war bei diesem Gipfel absehbar, in einer anderen Dimension und mit einer ungleich stärkeren öffentlichen Wahrnehmung als bei einem Katz-und-Maus-Spiel in den
bayerischen Bergen wie einst in Elmau. Beeinträchigungen und Gefahren für die Bevölkerung wie auch für die 20.000 eingesetzten Polizist_innen zu vermeiden, war offenbar nicht so wichtig wie die richtigen Fernsehbilder.

Protestierende Menschen mit Plakten und Transparenten
"Solidarity without borders instead G20-Demonstration Hamburg 2017" von Rasande Tyskar - https://www.flickr.com/photos/rasande/ Lizenz (CC BY-NC 2.0) - https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Die berechtigte Empörung über die sinnlose Gewalt überdeckt alles andere. Die dürftigen inhaltlichen Ergebnisse des Gipfels, der Ausstieg der USA aus dem Klimaschutzabkommen? Nur noch Randnotizen. Die ebenso berechtigte Kritik an der Politik der G20, die zigtausende friedliche Demonstranten zum Ausdruck brachten - weitgehend unbeachtet. Alternative Vorstellungen einer gerechteren und nachhaltigeren Weltwirtschaftsordnung, wie sie etwa von den rund 2000 Teilnehmer_innen des Alternativgipfels "Global Solidarity Summit" formuliert wurden, finden in der Öffentlichkeit nicht statt. Kein Gehör finden kritische Nachfragen zur neuen Afrika-Partnerschaft ("Compact with Africa"), die wohl vorrangig auf die Erschließung neuer Verwertungsfelder für brachliegendes Kapital zielt. Selbst der fragwürdige Umgang mit der Pressefreiheit beim Gipfel, der ungeheuerliche Verdacht, Akkreditierungen auf Zuruf ausländischer Geheimdienste einkassiert zu haben, löst nicht den Aufschrei aus, der angemessen wäre.
Und auch im beginnenden Bundestagswahlkampf bringen die Ausschreitungen Erträge. Eben noch wurde die Union für die Inhaltslosigkeit ihres Wahlprogramms kritisiert - jetzt haben die Gipfelkrawalle ihr ewiges Gewinnerthema, die "innere Sicherheit", fest an der Spitze der Wahlkampfthemen etabliert. Wen kümmern Wahlprogramme, was interessieren lebensstandardsichernde Renten oder faire Arbeitsbedingungen im Angesicht solcher Gefahren?

Burkhard Winsemann