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Im Wartesaal zum großen Glück

Gedanken in der Warteschlange

Sohnemann ist der Ausweis geklaut worden, kurz vor den Sommerferien. Ein Tag im Bürger-Service-Center (BSC) steht an. Was mich daran erinnert: Das Stadtamt Bremen und seine MitarbeiterInnen leiden unter extrem hohen Krankenständen und Personalknappheit. Außerdem ist es wie jedes Jahr im Sommer: Viele Urlaubsreisende bemerken erst kurzfristig vor der Abreise, dass der benö-tigte Reisepass, Personalausweis oder Kinderausweis abgelaufen ist. Das Stadtamt weist auf seiner Internetseite daher eindringlich darauf hin, dass es nicht erforderlich sei, schon vor der Öffnung des BSC Schlange zu stehen, da, soweit möglich, alle Anliegen noch am selben Tag bearbeitet würden. Trotzdem haben sich um 7:28 Uhr, zwei Minuten vor der Öffnung, bereits ziemlich viele Wartende eingefunden. Pünktlich um
7:30 Uhr ruckelt es in der Schlange, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein erster Schwung Menschen Einlass erhalten hat.
Die Zeit in der Warteschlange wäre eigentlich eine gute Gelegenheit zur inneren Einkehr, zur Meditation, aber wer kennt das nicht: Wenn man versucht, sich keinen rosa Elefanten vorzustellen, dann erscheint er garantiert. Also lasse ich lieber meinen Gedanken freien Lauf.
Zum Beispiel frage ich mich, wie sich eigentlich entscheidet, in welche Richtung sich die Warteschlange aufstellt. Das ist nämlich jeden Tag anders. Und wie es eigentlich überhaupt kommt, dass hier so eine lange Schlange steht. Mit herkömmlichen volkswirtschaftlichen Modellen lässt sich dieses Ergebnis jedenfalls nicht vorhersagen. Es sei denn, man geht von der Annahme aus, die nutzenmaximierenden, rational handelnden und voll informierten Akteure genießen das Leben in der Warteschlange tatsächlich.
Realistischere Erkenntnisse dürften mit spieltheoretischen Ansätzen zu gewinnen sein. Diese können aufzeigen, dass die individuell vernünftig erscheinenden Handlungen Einzelner zu einem völlig unvernünftigen Gesamtergebnis führen können. Also: Wenn ein Bürger beschließt, den Wartezeiten beim BSC ein Schnippchen zu schlagen, einfach etwas früher aufzustehen und dadurch ganz vorne in der Schlange zu stehen, mag das plausibel erscheinen. Da dies aber allen anderen, die an diesem Tag zum BSC wollen oder müssen, ebenso einleuchtet, müssen letztlich alle länger warten. Eine gigantische Zweckentfremdung von Gleitzeitguthaben und Erholungsurlaub, und das nur, weil die Spieltheorie hierzulande aus ideologischen Gründen nicht so wohl gelitten ist.
Die Spieltheorie ist bekanntlich das wissenschaftliche Fachgebiet des vormaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, der deshalb in hiesigen Medien gern schon mal als Zocker diffamiert wurde. Und schon kreisen meine Gedanken nicht mehr um den Eintritt ins BSC, sondern um den Austritt aus dem Euro. Viele haben ja monatelang darüber spekuliert, ob Tsipras und Varoufakis noch ein As im Ärmel haben (nicht nur Zocker, sondern auch noch Falschspieler!) und waren dann ganz erstaunt, dass es nicht an dem war. Aber tatsächlich hatte die "Verhandlungs"-Situation zwischen Griechenland und den "Institutionen" mit einem Spiel nichts zu tun. Das war Chicago-Boxen, zwei halten das Opfer fest, der Dritte schlägt zu.
Chicago-Boxen ist kein Spiel, das haben wir als Kinder schon gelernt.

Zeichnung: Zunge leckt am "Mops am Stiel"
Der MOBS ist geluscht - „Mops am Stiel“ © Laurids Jess

Nur wenige Meter, bevor wir den Eingang zum BSC erreichen, werde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen. Mein Kollege Lars kommt des Weges und fragt, ob er uns Frühstück vorbeibringen soll. Das Ziel schon vor Augen winke ich ab, freue mich aber sehr über das Angebot. Die von der Feuerwehr verstehen sich halt darauf, Menschen in Notlagen zu helfen. Und haben dabei immer schon mobilen Bürgerservice (MOBS) praktiziert. Die Leistungen des Stadtamts werden dagegen auch zukünftig nur an festen Standorten angeboten, von anderweitigen Plänen hat der Innensenator Abstand genommen. Das kann ich nur begrüßen. Der MOBS ist gelutscht. ...

Nach insgesamt 4 Stunden schließlich übergibt uns der freundliche Kollege vom BSC den vorläufigen Personalausweis, nachdem er den endgültigen auf den Weg gebracht hat. Nach 48 Stunden halte ich alles für einen bescheuerten Traum: Jemand hat das gestohlene Portemonnaie - ohne Geld, aber mit Ausweis - gefunden und in unserem Briefkasten deponiert.

Burkhard Winsemann