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Deutschland, das Streikland?

2015 - das Jahr der Grundsatzkonflikte

2015 - das Jahr des Streiks. Streiks bei der Bahn, Lufthansa, Post und im Sozial- und Erziehungsdienst.
Diese Streiks waren massiv spürbar, da sie direkt in den Tagesablauf einzelner Menschen eingegriffen haben.
Viele Pendler konnten nicht oder nur erschwert zur Arbeit, Urlauber blieben auf dem Boden anstatt in die Luft zu gehen, Päckchen zu Ostern blieben liegen und die Eltern wussten nicht, wohin mit ihren Kindern, da die Kitas geschlossen blieben.
Dass es aussieht, als wenn wir immer mehr und immer heftiger streiken, liegt daran, dass in 2015 fast 90 % aller Streiks im Dienstleistungsbereich stattgefunden haben. Streiks im Dienstleistungsbereich sind spürbarer, sie treffen schneller die Bevölkerung.
Bei den Streiks ging es eher weniger um ein sattes Lohnplus oder eine Verringerung der Arbeitszeit, sondern um richtig große Grundsatzkonflikte.
Bei Amazon wird darüber gestritten, ob die MitarbeiterInnen in den Versandzentren nach dem Einzelhandels-Tarifvertrag bezahlt werden oder nach dem schlechteren Logistik-Tarifvertrag. Bei der Post ging es um die grundsätzliche Frage, ob die Versandzentren ausgegliedert werden dürfen mit dem Ziel, den ArbeitnehmerInnen 20 % weniger Entgelt zu zahlen.
Bei dem Streik der ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen geht es um eine Aufwertung ihrer Tätigkeiten, weil sich ihr Berufsbild und ihre Aufgaben radikal verändert haben. Die Vergütung und Eingruppierungsmerkmale der Beschäftigten sind aber seit 1990 nicht an die veränderten Arbeitsbedingungen und Tätigkeiten angepasst worden. Wir haben mit diesem Konflikt endlich die historisch gewachsene Entgelt-ungerechtigkeit insbesondere in Frauenberufen aufbrechen wollen. Das ist uns bis jetzt leider nicht gelungen. Das Schlichtungsergebnis hat zwar an manchen Stellen einiges mehr an Geld gebracht, aber nicht insgesamt eine Aufwertung der Berufe vorgesehen.

Der Bremer Marktplatz voller Menschen
Etwa 7.000 Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst demonstrierten am 13. Mai 2015 auf dem Bremer Marktplatz für eine Aufwertung ihrer Tätigkeiten

In den letzten 6 Monaten war es in Deutschland sehr streik-intensiv. Laut dem arbeitgebernahem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) haben die Ausstände im 1. Halbjahr 2015 insgesamt 944.000 Arbeitstage gekostet. Insgesamt sind auf 1.000 ArbeitnehmerInnen rund 17 Streiktage gekommen - mehr als viermal so viel wie im gesamten Vorjahr.
Im internationalen Vergleich allerdings liegt Deutschland gemessen an den Streiktagen trotz des Anstiegs im Mittelfeld. In Finnland kamen 2014 insgesamt 71 Streiktage je 1.000 ArbeitnehmerInnen zusammen und in Dänemark sogar 135 Streiktage pro 1.000 ArbeitnehmerInnen.
Ja, es hat in diesen Jahren besonders scharfe Auseinandersetzungen gegeben. Wir Gewerkschaften haben aber diese Streiks nicht vom Zaun gebrochen, weil wir gerne streiken, sondern es ging gerade bei der Post und im Sozial- und Erziehungsdienst um sehr grundsätzliche Streitfragen abseits von traditionell weniger konfliktträchtigen Entgeltfragen.
Warum wird gestreikt? Es wird immer dann gestreikt, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften innerhalb eines Tarifkonfliktes nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Und das einzige Druckmittel, das Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben, ist nun mal der Streik.
Ob in einem Tarifkonflikt gestreikt wird, entscheiden letztlich die organisierten Beschäftigten in einer Urabstimmung. Und nur wenn mehr als 75 % der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten sagen, sie wollen ihre Rechte mit einem Streik durchsetzen, wird zum Streik aufgerufen. Und um ihn zu beenden, müssen mehr als 25 % für die Annahme des Ergebnisses sein.
Nehmen wir beispielhaft die Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst. Nach 7 Verhandlungsrunden, 4 Wochen Streik und einem nicht akzeptablen Schlichterspruch haben nur rund 27 % der Gewerkschaftsmitglieder den Schlichterspruch annehmen wollen. Bei einer Urabstimmung wäre rein rechnerisch damit der Schlichterspruch angenommen gewesen.

Susanne Kremer ist stellvertretende Vorsitzende des ver.di-Landesbezirks Niedersachsen-Bremen/Foto: Susanne Kremer

Wir fanden aber, dass dieses Abstimmungsergebnis ein deutliches Signal sowohl an uns, aber auch an die Arbeitgeberseite war, diesen Spruch nicht zu akzeptieren, sondern weiter eine echte Aufwertung zu fordern und auch zu erstreiken.
Damit ist unser Handlungsauftrag klar. Der Streik geht weiter.

Susanne Kremer

Anmerkung der Redaktion:

Zwischenzeitlich haben sich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die kommunalen Arbeitgeber auf Nachbesserungen der Schlichtungsempfehlung verständigt. Dieses Ergebnis befindet sich zur Zeit (Stand: 06.10.2015) in der Urabstimmung.