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Der Mythos von der schwarzen Null

Unwiderstehlich wie der Gesang einer Sirene

Griechenland hat in den letzten Jahren ja nicht so viel gute Presse bei uns, vor allem wegen der hohen Staatsschulden. Aber Hochmut ist unangebracht. Griechenland ist nicht nur die Wiege der Demokratie; gerade im "Land der Dichter und Denker" sollten wir auch anerkennen, dass wir ohne die griechische Mythologie wenig gedichtet und ohne die Vorarbeit der griechischen Philosophen wenig gedacht hätten.
Nehmen wir zum Beispiel Heraklit: "Alles fließt" ist seine bekannteste Erkenntnis, und damit meinte er nicht das Wasser, das in nicht wenigen öffentlichen Gebäuden in Deutschland durch die Decke kommt. Tatsächlich fließt allerdings nicht alles, zwei Dinge sind wie in Stein gemeißelt: Die Frisur der Bundesverteidigungsministerin und Wolfgang Schäubles "schwarze Null".
Heute beziehen wir unsere Denkanstöße lieber aus den USA als aus Griechenland. Wenn wir das nur gerade an den richtigen Punkten täten. "Europa hat ein Deutschland-Problem. Genau genommen hat es ein Deutschland-gibt-nicht-genug-Geld-aus-Problem", stand neulich mit erfrischender Klarheit in der Washington Post. Europa stehe vor einer gro-ßen Depression, und das sei Deutschlands Schuld.
Die Absurdität der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik kann allerdings nicht verwundern, wenn man bedenkt, wer hierzulande als "weise" gilt: Nicht Philosophen, sondern fünf Professoren, die als Mitglieder eines irreführenderweise so genannten "Sachverständigenrates" neoliberale Phrasen dreschen.
Da mag sich ein weltweiter Konjunktureinbruch abzeichnen, da mag in Europa eine neue Rezession drohen – der Bundesfinanzminister hält eisern an der "schwarzen Null" fest. Da mag allenthalben betont werden, wie wichtig gute Bildung von klein auf ist: Mehr Geld dafür auszugeben ist nicht drin – die schwarze Null hat Vorrang. Da mögen Brücken wegen Einsturzgefahr gesperrt werden - für die Bundesregierung wöge der Einsturz ihres finanzpolitischen Kartenhauses schwerer.
Doch wem außer Schäubles Eitelkeit nützt es, wenn wir späteren Generationen ein paar Milliarden Euro weniger Staatsschulden (und entsprechend weniger Bundesschatzbriefe) hinterlassen, dafür aber Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen verfallen lassen? Wird dadurch die Zukunft unserer Kinder verbessert oder werden nur neue Verwertungsmöglichkeiten für privates Kapital geschaffen? Wird allein das leuchtende Beispiel der deutschen Haushaltspolitik dazu führen, dass alle EU-Staaten - simsalabim - ihre Haushaltsdefizite abbauen können? Im Gegenteil, wenn Deutschland finanzpolitisch bremst, gerät der Rest Europas erst recht ins Schleudern.
Aus der griechischen Mythologie kennen wir die Sirenen; eine ihrer Verwandten hierzulande ist die Loreley. Die politische Anziehungskraft der schwarzen Null ist offenbar ungefähr genau so unwiderstehlich wie die Anziehungskraft des Gesangs einer Sirene. Und da ihr Gesang uns die Sinne raubt, ignorieren wir freudestrahlend, dass wir am Ende an einem Felsen zerschellen werden.

Burkhard Winsemann